AVWF-Therapie

Informationen zur Audivisuellen-Wahrnehmungs-Förderung nach Ulrich Conrady von Therapeutin Mag.a Angela Pointner

Der Vagusnerv und sein Einfluss auf Stress und Erholungsfähigkeit

Was haben gute Konzentration, effektive Regeneration und offenes, soziales Aufeinanderzugehen gemeinsam? Alles wird direkt oder indirekt vom Autonomen Nervensystem gesteuert und ist davon abhängig, wie unser Gehirn die aktuelle Situation (unbewusst) bewertet. Unser Leben besteht aus einem Wechselspiel von Spannung und Entspannung, je nachdem, wer oder was uns gerade begegnet oder vor welchen Herausforderungen wir stehen. Der Begriff „Stress“ ist in diesem Zusammenhang ein geflügeltes Wort, doch nicht jeder versteht dasselbe darunter: Für die einen sind es viele Termine, die abzuarbeiten sind, für die anderen ein krankes Kind, um das sich alle Sorgen drehen. Fast jede(r) weiß, wie sich Stress anfühlt: Die Muskeln sind angespannt, das Herz schlägt schneller, man beginnt leicht zu schwitzen. Gleichzeitig mobilisiert unser Körper Energiereserven, von denen man oft nicht wusste, dass sie noch zur Verfügung stehen. Ist man hingegen erholt und entspannt, fällt vieles leichter: das Erlernen neuer Inhalte, das kreative Gestalten, das Miteinander-Auskommen oder auch das Aufladen der eigenen „Körperbatterie“. Doch Stress an sich ist trotzdem nichts Negatives. Jeder Mensch braucht von klein auf Herausforderungen, um sich entwickeln zu können. Nicht umsonst ist unser Organismus ein Wunderwerk der Anpassung, der im Grunde für (fast) jede Art von Anforderung ein hochkomplexes, passendes Antwortsystem parat hat.

 

Die drei Verarbeitungsebenen unseres Gehirns

Um die Grundlagen der menschlichen Stressreaktion zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass unser Gehirn über drei „Verarbeitungsebenen“ verfügt (ohne über genaue anatomische Kenntnisse verfügen zu müssen).

Der Präfrontalkortex (der Stirn zugewandter vorderer Teil des Großhirns) ist zuständig für konkretes Planen und Vorausschauen von Handlungen. Eindrücke werden hier bewusst in den Kontext mit anderen Erfahrungen gesetzt und zeitlich eingeordnet. Der Präfrontalkortex ist auch der Sitz unseres empathischen Verstehens und ermöglicht uns die Unterdrückung unangebrachter Handlungen.

Das limbische System sitzt quasi „einen Stock tiefer“ und umfasst mehrere Areale, u.a. die Amygdala, die oft vereinfacht als Sitz der Emotionen bezeichnet wird. Das limbische System stellt unseren Organismus (mit all seinen Erfahrungen und Erinnerungen) mit der Außenwelt in einen Zusammenhang. Eindrücke werden auf ihre emotionale Relevanz überprüft, kategorisiert und an das Großhirn weitergeleitet.

Im Hirnstamm, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Anteil unseres Gehirns, werden grundlegende (Über-)lebensfunktionen wie Schlafen/Wachen, Hunger/Sättigung, Anspannung/Entspannung und auch Herzschlag sowie Atmung geregelt.

Die Stress-/Belastungsreaktion

Die erste Reaktion auf einen (Stress)Reiz erfolgt in unserem Gehirn nicht bewusst, sondern unbewusst in den unteren beiden Ebenen. Bevor uns ein Stressreiz also bewusst wird, hat unser Limbisches System diesen längst auf seine „Gefährlichkeit“ hin überprüft und über das Stammhirn eine entsprechende Reaktion eingeleitet.

 

Der Thalamus fungiert hierbei als „Tor zum Bewusstsein“. Er filtert die verschiedenen Sinneseindrücke und verteilt sie an die entsprechenden Verarbeitungszentren. Doch nicht nur Sinneswahrnehmungen von außen werden bewertet und gefiltert, sondern auch Eindrücke, die von innerhalb des Organismus (den Organen, den Muskeln) kommen. Ein stechender Schmerz im Magen wird genauso als Gefahr gewertet wie eine unheimliche dunkle Person, die nachts plötzlich um die Ecke biegt.

 

Bevor aber so eine Gefahr in unser Bewusstsein dringt, wurde unser Organismus durch unser Gehirn mittels verschiedenster Botenstoffe (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin) längst in Alarmbereitschaft versetzt, um blitzschnell reagieren zu können.

 

Bei Gefahr (oder einer länger anhaltenden Belastung) wird durch Mobilisation des Sympathikus der sogenannte Kampf-Flucht-Reflex (fight or flight) ausgelöst: Die Atmung wird flacher, damit der Körper mit mehr Sauerstoff versorgt werden kann, gleichzeitig schlägt das Herz schneller, die Muskeln spannen sich an und das Blickfeld verengt sich (Tunnelblick). Kann der Organismus die Gefahr nicht bekämpfen, ist er bereit zu fliehen. Immer öfter kann man in diesem Zusammenhang auch von einer dritten Art der Reaktion lesen: dem Fawn-Reflex. Kann man eine Gefahr weder bekämpfen, noch vor ihr fliehen, dann „unterwirft“ man sich. Im zwischenmenschlichen Bereich wird von „People-Pleasing“ gesprochen, also dem anderen alles recht zu machen und auf eigene Bedürfnisse zu verzichten, um eine Bedrohung abzuwenden.

 

Bei Lebensgefahr kommt es hingegen zum „Freeze-Reflex“: Der Organismus schaltet im Extremfall alle nicht notwendigen Funktionen ab, um das Überleben zu sichern (z.B. Bewusstlosigkeit bei einem schweren Unfall). Es kommt zu einer Immobilisation, einem „Totstellen“ des Körpers, das einher geht mit einem niedrigen Puls, wenig bis gar keiner Muskelspannung, dem Nicht-zugreifen-können auf seine Intelligenzen (keinen klaren Gedanken fassen).

 

Gelangt eine Gefahr/Belastung nun anschließend ins Bewusstsein, ermöglicht dies eine Neubewertung des Geschehens (natürlich nicht im Freeze-Zustand) durch das Großhirn bzw. den Präfrontalen Kortex. Erweist sich die dunkle Gestalt (um beim vorherigen Beispiel zu bleiben) als nicht bedrohlich, dann leitet unser Gehirn sofort eine Entspannungsreaktion ein. Auch dies geschieht zunächst unbewusst: man atmet auf, der Herzschlag beruhigt sich, die Muskelspannung legt sich.

Der Vagusnerv

Dass wir uns nach einer Aufregung wieder entspannen können, dafür sorgt der Vagusnerv als Teil unseres parasympathischen Systems. Der Vagusnerv verbindet unseren Körper mit unserm Gehirn, in dem er fast alle Organe erreicht und von dort Informationen über den aktuellen Zustand mitbringt. Er steuert aber auch verschiedene Funktionen. Der Neurowissenschaftler Stephen Porges unterschied dabei als erster zwischen zwei Anteilen, die sich entwicklungsgeschichtlich in anderen Zeitabschnitten entwickelten. Der alte Ast des Vagusnervs steuert lebenswichtige Grundfunktionen wie Verdauung und Herzschlag und leitet auch den „Freeze-Reflex“ ein.

Der moderne Anteil des Vagusnervs fungiert dagegen wie eine hochreaktive, anpassungsfähige Bremse und sorgt dafür, dass unser Organismus in einer optimalen Energiebalance bleibt. Bei alltäglichen Herausforderungen (und „sicherer Umgebung) sorgt er für Entspannung und Anspannung, ohne auf den kräfteraubenden, viel trägeren Sympathikus zurückgreifen zu müssen. Dieser Balancebereich wird auch als Toleranzfenster bezeichnet. Verbringen wir den Großteil unsers Tages innerhalb dieses Fensters, dann gelingt es uns trotz größerer und kleinerer Herausforderungen zu regenerieren, uns zu erholen. In diesem Zustand fällt es uns leichter, auf andere zuzugehen, da das soziale Kontaktsystem in sicherer Umgebung am besten funktioniert. Dasselbe gilt für das Lernen.

Co-Regulation und Selbstregulation

Dieses Toleranzfenster ist nicht bei allen Menschen gleich groß. Die Grundlagen für seine Größe und damit ob ein Mensch schneller „gestresst“ ist oder nicht, werden in der Kindheit gelegt. Jeder bringt in dieser Hinsicht andere Voraussetzungen mit, die sehr eng mit der jeweiligen Familiengeschichte verwoben sind. Gewisse Verhaltens- bzw. Stressverarbeitungsmuster werden oft über Generationen weitergegeben. Der Vagusnerv ist beim Säugling zwar schon ausgebildet, aber noch nicht mit jener Hülle versehen, die seine schnelle Anpassungsfähigkeit ermöglicht. Die vollständige Ausbildung des Vagusnervs geschieht durch Co-Regulation. Das bedeutet, dass Säuglinge vom Nervensystem ihrer Bezugspersonen „lernen“ müssen: indem die Eltern einerseits die Bedürfnisse des Kindes (nach Nahrung, Nähe, Aufmerksamkeit, etc.) erkennen und zeitnah erfüllen und andererseits in der Lage sind, entspannt zu bleiben und das Kind zu beruhigen. Im Laufe ihres Lebens lernen Kinder und Jugendlich im Optimalfall, sich immer besser selbst zu regulieren, doch wir bleiben auch als Erwachsene immer abhängig von einem gewissen Maß an Co-Regulation (z.B. gerade in Krisensituationen).

Die Fähigkeit zu spüren, wie jemand anderer „verschaltet“, also in Alarmstimmung oder entspannt, ist, besitzt grundsätzlich jeder Mensch – nur manchmal sind wir uns dessen nicht bewusst bzw. können es nicht in Worte fassen. Beziehungsarbeit läuft aber genau auf dieser Ebene ab. Deshalb ist es wichtig, sich seines eigenen Toleranzfensters bewusst zu sein und darauf zu achten, es zu „pflegen“.

Reaktion bei chronischem Stress/Trauma

Chronischer Stress ist dadurch gekennzeichnet, dass man den größten Teil seines Alltags nicht innerhalb des Toleranzfensters verbringt, sondern in Alarmstimmung. Man pendelt nicht mehr energieschonend zwischen leichter Anregung und Entspannung hin und her, sondern der Sympathikus arbeitet fast dauerhaft auf Hochtouren. Das kann über eine bestimmte Zeit gut gehen, wenn dazwischen Regenerationsphasen eingehalten werden, doch auf Dauer verschiebt sich die eigene Stressreaktion in einen Zustand der Übererregung. Man ist ständig angespannt und unruhig, hat einen hohen Ruhepuls, erste Konzentrationsprobleme gesellen sich dazu, man kann kaum noch abschalten und wird schnell aggressiv, dazu schläft man schlecht. Wenn die Energiereserven des Körpers fast aufgebraucht sind, schaltet der alte Vagusanteil auf das Notprogramm um. Eine Untererregung ist die Folge, die durch extreme Erschöpfung, Antriebslosigkeit und Immobilisation gekennzeichnet ist (z.B. Erschöpfungsdepression). Oft pendelt man vor der totalen Erschöpfung noch zwischen diesen beiden Zuständen hin und her: Phasen der absoluten Alarmstimmung wechseln sich mit Phasen starker Erschöpfung ab.

Auch ein Trauma bedingt im Grunde nichts Anderes als eine extreme Stressreaktion des Körpers. Unter einem Trauma versteht man im engeren Sinn, ein „kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“. Das gilt bei Ereignissen, bei denen man entweder selbst oder eine nahestehende Person oder auch ein(e) Fremde(r) mit dem Tod, einer ernsthaften Verletzung oder einer Gewalterfahrung konfrontiert ist. (Quelle: A. Maerker, Trauma und Traumafolgestörungen, C.H. Beck, München 2017). Auch bei einem Trauma schaltet der Organismus auf das Notprogramm um, doch im Gegensatz zum chronischen Stress viel schneller und akuter.

Die Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung (AVWF)

Ein Trauma, vor allem wenn es in der frühen Kindheit passiert ist, beeinflusst sowohl die Stressregulation als auch die Größe des Toleranzfensters nachhaltig. Doch – und das ist die gute Nachricht – die Art und Weise, wie unser Gehirn und unser autonomes Nervensystem auf Stress reagieren, ist ein Leben lang bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar. Nicht umsonst wurde der Vagusnerv in den letzten Jahren als der „Selbstheilungsnerv“ entdeckt. Inzwischen gibt es mehrere Therapieansätze, die darauf abzielen, den modernen Anteil des Vagus mit Übungen und Methoden zu stimulieren und zu stärken. Zu diesem Zweck wurde auch die Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung (AVWF) entwickelt, die in speziellen Zentren in Deutschland und Österreich angeboten wird. Dabei wird der Vagusnerv über Nervenfasern des Mittelohres mit Hilfe von schallmodulierter Musik positiv beeinflusst. In zehn einstündigen Einheiten wird über Kopfhörer Musik gehört, um die Entspannungsfähigkeit zu verbessern, den Körpertonus auszugleichen und auch Konzentration und Aufmerksamkeit zu erhöhen. Spitzensportler nehmen diese – mittlerweile durch wissenschaftliche Studien bestätigte – Methode genauso in Anspruch wie dauergestresste Erwachsene oder Kinder mit Lern- oder Entwicklungsschwierigkeiten. Weitere Tipps, wie man bequem von zu Hause aus etwas für seine Regenerationsfähigkeit tun kann, gibt es in den unzähligen Büchern zum Thema Vagusnerv, die mittlerweile auf dem Markt sind, nachzulesen. Meine persönliche Empfehlung gilt dem Buch „Die Vagusmeditation“ von Prof. Dr. Gerd Schnack und Birgit Schnack-Iorio, das 2021 im Trias-Verlag erschienen ist.