Nur der Mensch als solcher ist wichtig
Artikel aus der Zeitschrift Leben Lachen Lernen, Heft 34, April 2008,
geschrieben von der Schwester eines Bruders mit Down-Syndrom
Mein “Down-Syndrom-Bruder”
Mein “Down-Syndrom-Bruder” ist das jüngste von sechs Kindern und wird heuer 40 Jahre alt. Ich, als vierte in der Geschwisterreihe und drei Jahre älter als er, übernahm von Anfang an sehr viel Verantwortung. Als Kind war mir zwar bewusst, dass er anders war, beschäftigt oder gar gestört hat mich das nicht. Es gab für uns Kinder nichts anderes, wir hatten keine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn er keine Behinderung gehabt hätte. Über so etwas habe ich nie nachgedacht. Aber dass ich mich um ihn kümmern musste, das spürte ich. Da meine Mutter im elterlichen Betrieb mitarbeitete, war sowieso klar, dass wir Kinder zuhause mithelfen mussten. In den Sommerferien hatten wir immer einen Haushaltsplan, wo die jeweiligen Aufgaben und Pflichten eingezeichnet waren. Und eine davon, neben “Bad putzen” und “Staub saugen” war das “Aufpassen auf meinen Bruder”.
Eifersüchtig war ich nicht auf ihn, sondern auf meine jüngere Schwester. Auf sie konzentrierten sich meine Wut und meine Eifersucht. Eifersucht auf meinen Bruder war von vorneherein ausgeschlossen. Ich spürte genau, dass das nicht ging, man durfte nicht auf einen Bruder eifersüchtig sein, der sich nicht wehren konnte. Ich spürte schon sehr früh ganz genau, dass wir anderen Kinder “pflegeleicht” sein mussten, damit meine Eltern und wir mit der gesamten Situation fertig wurden. Noch ein Kind, das mehr Aufmerksamkeit für sich beansprucht hätte, hätte zum “Zusammenbruch” führen können.
Große Verantwortung
Mit der Zeit lastete aber diese Verantwortung sehr stark auf mir. Unser ganzes Leben war nach meinem Bruder ausgerichtet. Vor allem mein Vater zog sich sehr von außerfamiliären Dingen zurück. Nichts war für ihn so wichtig, wie mein Bruder. Im Vergleich zu diesem “Schicksal” gab es nichts, was ihn davon ablenken hätte können. Wir unternahmen als Familie nur Sachen, bei denen mein Bruder dabei sein konnte. Der Zusammenhalt der Familie war unheimlich wichtig für meine Eltern. Diese Frage “Was ist mit unserem behinderten Kind, wenn wir einmal nicht mehr sind?” schwebte ständig über uns. Manchmal fühlte ich mich wie in einer Falle gefangen.
Gleichzeitig war mir schon als kleines Kind klar, dass meine Eltern nicht anders konnten. Ich steckte immer in der Zwickmühle: Ich verstehe meine Eltern, ich leide darunter, ich kann es ihnen aber nicht vorwerfen, weil ich sie verstehe, sie können nicht anders.
Dieses Verständnis, das von mir erwartet wurde, war eine große Bürde für mich. Natürlich war ich damit überfordert. Ich musste meine Bedürfnisse zurückstecken und auch noch Verständnis dafür haben. Das ist oft für Erwachsene schwierig, für ein Kind fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Andererseits hat mich das aber auch sehr in meiner Persönlichkeitsentwicklung geprägt. Meine Geschwister und ich, wir waren reifer und verantwortungsbewusster als andere Kinder in unserem Alter. Wir erlebten, dass Glück und Zufriedenheit auch in kleinen Dingen zu finden waren, dass es wichtigere Dinge auf der Welt gab als Schönheit und materielle Güter.
Mein Studium in Wien, weit weg von zu Hause, war für mich eine Befreiung und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit meiner Rolle als Tochter und Schwester. Ich merkte: es geht auch ohne mich. Natürlich war die Berufswahl, Sonderpädagogin zu werden, von meiner Prägung im Elternhaus bestimmt.
Anerkennung
Heute denke ich, dass ich schon sehr früh sehr genau spürte, dass ich durch meine Beschäftigung mit meinem Bruder Anerkennung erhielt. Da konnte man sich auf mich verlassen. Da war mir Lob sicher. Ich hatte nicht diese Berührungsängste mit Menschen mit Behinderung, weil ich mit ihnen aufwuchs. Das Aufwachsen mit einem Bruder mit Behinderung hat mir sicher einen Teil meiner Kindheit genommen, aber es hat mir auch die Oberflächlichkeit erspart, mit der manche Menschen durchs Leben gehen. Werte wie Zusammenhalt, Solidarität mit Schwächeren, für die Rechte anderer einzustehen, habe ich ebenso mitbekommen, wie eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen.
Für mich ist Gesundheit nicht selbstverständlich, aber wichtig ist nur, wie Menschen miteinander umgehen. Dann kann eine Behinderung zur Nebensache werden und nur der Mensch als solcher ist wichtig.