Lust statt Frust

Sexualität für Menschen mit Down-Syndrom

von Dr. Karin J. Lebersorger, Down-Syndrom Ambulanz Wien
aus dem Sonderheft “Mittendrin” zur Down-Syndrom-Tagung 2006 in St.Virgil in Salzburg, herausgegeben von DSÖ, Institut Leben Lachen Lernen

Sexualität ist ein integraler Bestandteil des Menschseins von der Geburt bis zum Tod.

Jeder Mensch hat Sexualität, auch Menschen mit geistiger Behinderung. Es zeigen sich viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

Sexualität bedeutet nicht nur genitale Sexualität, sondern auch das Bedürfnis nach Kontakt, Zuneigung, Zärtlichkeit, Intimität etc.  

Gesellschaftlicher Kontext

Die heutige Zeit ist nur eine scheinbar aufgeklärte. Trotz Sexualisierung vieler Lebensbereiche finden sich weiterhin Befangenheit sowie Sprachlosigkeit, die eine Auseinandersetzung mit Sexualität erschweren. Es zeigen sich zunehmend exhibitionistische und voyeuristische Tendenzen, Bilder ersetzen das Nachdenken.

Die sexuellen Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung wurden lange Zeit negiert und tabuisiert – Sterilisation ohne Einwilligung oder Missbrauchssituationen waren alltäglich.

Eltern, Bezugs- und Betreuungspersonen

Für alle, die mit Kindern und Jugendlichen befasst sind, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung zur Sexualität, mit dem eigenen Sexualleben, mit Werthaltungen, Erwartungen und Vorurteilen wichtig. Spätestens mit Einsetzen der Pubertät wird dies unvermeidlich. Diese Lebensphase ist für Eltern immer eine enorme Herausforderung und stellt oft das gesamte Erziehungssystem in Frage.

Manchmal wird dann zum ersten Mal die Frage nach Sexualaufklärung (Wann? Wie? Wer?) gestellt. Entscheidend für deren Gelingen ist das, was Kinder von ihren Eltern von klein auf mitbekommen haben: Kenntnis des eigenen Körpers, seiner Funktionen, Umgang mit Zärtlichkeit und den eigenen Grenzen. Dies ist eine wichtige Basis für das Gelingen von Verhütungsberatung.

Die psychosexuelle Entwicklung

Sexualität beginnt nicht erst mit der Geschlechtsreife, die in der Pubertät stattfindet. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an ein sexuelles Wesen. Sexualität umfasst lustvollen Auf- und Abbau von Erregung und Spannung durch verschiedenste Verhaltensweisen, das Zeigen von Zuneigung und den Austausch von Zärtlichkeiten, und vieles mehr.

Sigmund Freud beschrieb als erster die Phasen der psychosexuellen Entwicklung jedes Menschen. Bei der kindlichen Sexualität findet im Unterschied zur Sexualität Erwachsener der Lustgewinn am eigenen Körper und angelehnt an wichtige Körperfunktionen statt. Erst ab dem Jugendalter ist die Sexualität auf andere ausgerichtet. Alle kindlichen Phasen der Sexualentwicklung fließen in die Sexualität Erwachsener ein. Ausreichende Triebbefriedigung auf den einzelnen Entwicklungsniveaus ist für eine altersgemäße psychosexuelle Entwicklung wichtig. Bei Problemen und ungelösten Konflikten kann es zu Regression auf vorangegangene Entwicklungsstufen kommen.

  • Orale Phase: Lustgewinn über den Mundraum, anfangs nur durch Nahrungsaufnahme, bald durch Lutschen, Schlecken, Schnuller, Saugen am Körper oder an Gegenständen.
  • Anale Phase: Lustgewinn über die Reizung der Darmschleimhaut durch zunehmendes Bewusstwerden der Ausscheidungsfunktionen. Die Themen Sauberkeit, Schmieren, Gatschen, Hergeben oder Zurückhalten beschäftigen Eltern und Kind.
  • Phallisch-ödipale Phase: Lustgewinn über Stimulation der Genitalien, zunehmendes Interesse am eigenen Körper, an den Geschlechtsunterschieden sowie am Zeigen und Betrachten der Geschlechtsorgane. Masturbation ist eine altersgemäße, autoerotische Betätigung, die in einem intimen Rahmen stattfinden sollte. Es ist besonders wichtig für Eltern, Worte für die Genitalien und die Genitalfunktionen zu finden, die ihnen angenehm sind. Nur so können sie gemeinsam mit ihrem Kind über seinen Körper sprechen und nachdenken.
  • Latenz: Im Volksschulalter kommen keine neuen Körperzonen für die Sexualentwicklung dazu.
  • Genitale Phase: Durch die Geschlechtsreife wird der kindliche Körper erwachsen, die Sexualität ist zunehmend auf den anderen ausgerichtet, eigene Elternschaft ist möglich.

Menschen mit Down-Syndrom

In der körperlichen Entwicklung unterscheiden sich junge Menschen mit Trisomie 21 nicht von ihren Altersgenossen.

Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale, genitale Behaarung, Brustwachstum, Peniswachstum, erste Regelblutung, erster nächtlicher Samenerguss kommen oft der psychosexuellen Entwicklung zuvor. Dieses Phänomen findet sich aber auch bei “gesunden” Jugendlichen, da sehr häufig die körperliche Entwicklung nicht mit dem Bewusstseinsstand der Jugendlichen korreliert. Verkompliziert wird die Situation durch den Ablösungsprozess vom Elternhaus, der sich manchmal in heftiger Ablehnung, Identifikation mit neuen Peer-Groups etc. äußern kann.

Jugendliche mit Down-Syndrom haben gleiche Bedürfnisse und Empfindungen wie andere Gleichaltrige. Sie zeigen sie oft deutlicher und haben weniger Hemmungen. Nur auf der Basis einer altersgemäßen Sexualaufklärung von klein auf ist es möglich, mit den Jugendlichen über ihre Gefühle und ihr Verhalten zu sprechen. Menschen mit geistiger Behinderung sind verletzlicher als andere Jugendliche, weil durch ihren intellektuellen Entwicklungsstand keine volle Selbstständigkeit erreicht wird. Es ist wichtig, Grenzen und Abgrenzungen zu thematisieren. Dadurch kann sexuellem Missbrauch vorgebeugt werden. Oft ist dieser nicht zu verhindern, aber es ist danach möglich, darüber zu sprechen und ihn aufzuzeigen, wenn Worte zur Verfügung stehen.

Menschen mit geistiger Behinderung können durch rechtzeitige Aufklärung auch auf dem Weg der Verhütung begleitet werden. Das Thema einer möglichen Schwangerschaft taucht so nicht plötzlich und bedrohlich auf, sondern bleibt fassbar.

Viele Teenager träumen von einem Kind, weil ein Baby das Symbol für eine heile Welt, Leben in Geborgenheit und Sicherheit darstellt. Der Kinderwunsch soll die Lebensqualität verbessern und den Weg in die Normalität ebnen – diese Wünsche stellen generell die Schwierigkeit in der Verhütungsberatung dar.

Aus der Literatur ist bekannt, dass Mädchen mit Down-Syndrom eine normale Fruchtbarkeit haben (im Gegensatz zu Jungen mit Down-Syndrom, bei denen von einer Zeugungsunfähigkeit auszugehen ist). Mit einem Vater ohne Down-Syndrom besteht eine 50% Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt zu bringen.  

Verhütungsberatung

Vor diesem Hintergrund ist die Verhütungsberatung besonders bedeutsam, sie muss im Besonderen auf die Situation des/der Betroffenen Rücksicht nehmen, und in zweiter Linie auf die Betreuer (in vielen Fällen die Eltern).

So wenig die Jugendlichen und jungen Menschen mit Trisomie 21 von ihren Altersgenossen unterscheiden, so wenig unterscheiden sich die kontrazeptiven Angebote.

Bei der Wahl des geeigneten Verhütungsmittels ist besonders Rücksicht zu nehmen auf:

  • Kontraindiktion, chronische Erkrankungen (v.a. Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Thromboserisiko)
  • Wechselwirkung oraler Verhütungsmittel mit anderen Medikamenten (z.B. Antiepileptika)
  • Der schubweise Verlauf chronischer Erkrankungen erfordert engmaschige Kontrollen
  • Das Ausmaß der geistigen Behinderung bzw. den psychosozialen Hintergrund (Regelmäßigkeit der Einnahme, Betreuersituation …).

Überblick über Verhütungsmittel, mit besonderem Augenmerk auf die Anwendbarkeit bei Menschen mit Trisomie 21

 

Prinzipielle Anforderungen an Verhütungsmittel:

  • Kostengünstig
  • Einfach in der Anwendung
  • Nebenwirkungsfrei
  • Reversibel
  • Sicherheit – Die Sicherheit eines Verhütungsmittels hängt unmittelbar von der korrekten Anwendung ab!

 Methoden: 

1. Biologische Methode

Sind in der Regel unsicher, erfordern hohe Selbstdisziplin und Kontrolle und sind somit kaum geeignete Methoden, z.B. Temperaturmethoden, Knaus Ogino …

2. Barrieremethoden

Dazu zähl in erster Linie das Kondom, das seine Bedeutung durch den zusätzlichen Infektionsschutz erhält. Der Umgang damit sollte auch für junge Menschen mit Trisomie 21 erlernt werden, als Verhütungsmethode ist es allerdings eher unsicher.

Das Diaphragma für die Frau oder vergleichbare Methoden konnten sich generell nicht durchsetzen und sind in der Handhabung ungleich komplizierter.

3. Chemische Methoden

Scheidencremes und Scheidenzäpfchen erhöhen in der kombinierten Anwendung die Sicherheit des Kondoms; sind allein angewendet äußerst unsicher, erfordern einiges an Manipulation vor dem Geschlechtsverkehr.

4. Hormonelle Verhütungsmethoden

3 Monatsspritze: wird alle 3 Monate i.m. verabreicht, gilt als sichere Verhütung, kann als Nebenwirkung zu Zyklusunregelmäßigkeiten, Gewichtszunahme, etc. führen.

Pille: Zwischenzeitlich gibt es verschiedene nicht dosierte Präparate mit geringen Nebenwirkungen (wenn keine medizinischen Kontraindikationen vorliegen); wichtig ist allerdings die korrekte regelmäßige Einnahme!

Gestagen only Pill: früher “Mikropille” – wenn Östrogene kontraindiziert sind; muss nicht mehr so exakt eingenommen werden wie das bisherige Präparat, Zwischenblutungen sind möglich.

Implanon: Hormonstäbchen, das für 3 Jahre unter die Haut des Oberarms eingesetzt wird (lokale Betäubung), als Nebenwirkung: Zyklusstörungen, ev. Gewichtszunahme.

Verhütungspflaster: verliert bei Körpergewicht über 90kg an Verlässlichkeit. Wird durch 3 Wochen 1x pro Woche aufgeklebt, mit einer Woche Pause, zuverlässig, keine Zyklusstörungen; Gegenanzeigen wie Pille.

Hormonring: kleiner hormonhältiger Kunststoffring, der für 3 Wochen in der Scheide belassen wird, dann für 1 Woche entfernt; sicher, Gegenanzeigen wie Pille, erfordert allerdings einen guten Zugang zum eigenen Körper.

Spirale, IUD: Die in die Gebärmutter eingesetzte Spirale verhindert das Einnisten eines möglicherweise befruchteten Eies und somit sicher eine Schwangerschaft: das Setzen erfolgt bei der gynäkologischen Untersuchung während der Menstruation und kann von einer Frau, die noch nicht geboren hat, als etwas schmerzhaft empfunden werden. (Option für Frauen mit Trisomie 21: kurze Sedierung bzw. Kurznarkose). Voraussetzung: unauffälliger Krebsabstrich, normal große Gebärmutter und in der Folge regelmäßige frauenärztliche Kontrollen. Die Liegedauer beträgt 3-5 Jahre, dann ist ein Wechsel möglich.
* Kupferspirale: gibt es auch in kleinen Ausführungen, kann verstärkte Blutungen auslösen.
* Hormonspirale: höhere Sicherheit, kann anfangs zu Blutungsunregelmäßigkeiten führen, später zum Ausbleiben der Menstruation.

5. Sterilisation

Ist eine endgültige Verhütungsmethode und wurde oft missbräuchlich eingesetzt.

In Österreich ist die Sterilisation im Strafgesetzbuch §90 geregelt. Eine vom Arzt/Ärztin mit Einwilligung der betroffenen Person vorgenommene Sterilisation ist nicht rechtswidrig.

  • bei medizinischer Indikation
  • an einer Person, die das 25. Lebensjahr vollendet hat
  • wenn sie aus anderen Gründen nicht gegen die guten Sitten verstößt, was jedenfalls bei eugenischer und wohl auch bei medizinisch-sozialer Indikation der Fall ist.

In der Kontrazeptionsberatung müssen viele Betrachtungen angestellt werden, um die bestmögliche Verhütungsmethode zu finden und Raum für eine unbelastete Sexualität zu schaffen.