Pubertät, Sexualität und Partnerschaft

von Prof. Dr. Etta Wilken, Allg. und integrative Behindertenpädagogin, Hannover (D)
aus dem Sonderheft “leben lachen lernen” zur Down-Syndrom-Tagung 2003 in St.Virgil in Salzburg, herausgegeben von DSÖ, Institut Leben Lachen Lernen

Psychische Entwicklung

Die Adoleszenz als Ende der Kindheit und Beginn des Erwachsenenlebens bedeutet für alle Jugendlichen eine Zeit neuer Orientierung und größerer Umstellungen. Der Junge wird zum Mann, das Mädchen zur Frau und damit vollzieht sich nicht nur eine biologische Reifung, sondern auch psychische und soziale Veränderungen werden erlebt. Das alters- und entwicklungsbedingte Bedürfnis nach Unabhängigkeit und mehr Selbstbestimmung und die Abgrenzung von den Eltern können dabei zu konflikthaften Auseinandersetzungen führen.

Auch Jugendliche mit DS zeigen die entwicklungstypischen Bestrebungen nach Selbständigkeit, erleben jedoch oft deutlich, wie viel begleitende Hilfen und Unterstützung sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung benötigen. Aus solchem Gegensatz von subjektiven Wünschen und objektiven Notwendigkeiten entstehen häufig frustrierende Erfahrungen und die großen Diskrepanzen in der kognitiven, physischen und psychischen Entwicklung bedingen gerade in diesem Alter besondere Herausforderungen.

Besonders sehr schwer behinderten Jugendlichen mit DS gelingt es manchmal nicht, die biologisch bedingten Veränderungen und alterstypischen Bedürfnisse zu verstehen und damit umzugehen. Dadurch können problematische Verhaltensweisen ausgelöst werden wie vermehrte Unruhe, aggressive oder regressive Reaktionen aber auch erhebliche Stimmungsschwankungen und Störungen im Tag- und Nachtrhythmus.

Bei allen Jugendlichen erfolgt in diesem Alter eine zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Person, d.h. mit dem Aussehen, den Kompetenzen und mit der Wertschätzung, die sie in der Gruppe der Gleichaltrigen erfahren. In diesem Spannungsfeld von Selbstbild und sozial vermittelter Akzeptanz entwickelt sich die Ich-Identität. Dabei ist ein Gleichgewicht beider Aspekte eine wichtige Grundlage für psychische Gesundheit.

Physische Entwicklung

In der Pubertät zeigen sich bei Jugendlichen mit DS erhebliche Unterschiede in der allgemeinen körperlichen Entwicklung, in den gesundheitlichen Bedingungen und den zusätzlichen Beeinträchtigungen. Auch in den motorischen, sprachlichen, kognitiven und sozialen Kompetenzen sowie in der Selbständigkeit wird eine große Heterogenität deutlich.

Allerdings gibt es auch typische syndromspezifische Abweichungen, die zu berücksichtigen sind. So liegt die Körpergröße bei Jugendlichen und Erwachsenen mit DS deutlich unter dem Durchschnitt und wird für Männer mit DS mit 147-162 cm und für Frauen mit ca. 135-155 cm angegeben (Canning / Püschel 2001, 86).

Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit DS besteht die Tendenz zu einer starken Gewichtszunahme. Dabei sind Frauen deutlich stärker betroffen als Männer (Weber, Rett 1991, 80). Als eine wesentliche Ursache für das häufige Übergewicht bei Menschen mit DS ist der genetisch bedingte geringere Kalorienbedarf anzunehmen (vgl. Püschel / Sustrova 1997, 17). Aber auch das Essverhalten und die oft bevorzugten Nahrungsmittel spielen eine Rolle.

Mit der Pubertät ändert sich bei allen Jugendlichen auch das Spiel- und Freizeitverhalten. Es erfolgen weniger spontane Aktivitäten sondern mehr geplante Verabredungen mit Gleichaltrigen zu gemeinsamen Unternehmungen und bestimmten sportlichen Tätigkeiten in Gruppen oder im Verein. Viele Jugendliche mit DS machen in diesem Alter die Erfahrung, sich nicht mehr hinreichend beteiligen zu können und ziehen sich zurück. Im Freizeitverhalten dominieren dann häufig eher passive Tätigkeiten wie Musik hören oder Fernsehen. Dadurch kommt es zu einer ungünstigen Wechselwirkung: Mangelnde Bewegung kann vorhandenes Übergewicht verstärken und übergewichtige Jugendliche neigen dazu, sportliche Aktivitäten zu vermeiden.

Sexualerziehung

Jungen und Mädchen mit DS kommen in die Pubertät in einem Alter, das der durchschnittlichen Entwicklung annähernd entspricht. Verstimmungen, Gereiztheit und Unsicherheit ist wie bei anderen Jugendlichen häufig. Auch die sozialen und sexuellen Interessen und Bedürfnisse sind eher als alterstypisch zu sehen. Die früher angenommene verzögerte und eingeschränkte Pubertätsentwicklung konnte in neueren Untersuchungen nicht bestätigt werden. Auch die Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale zeigt bei männlichen und weiblichen Jugendlichen mit DS keine typischen Abweichungen. Allerdings können die Diskrepanzen in der physischen, psychischen und kognitiven Entwicklung spezielle Probleme für die Jugendlichen selbst, aber auch für ihre Bezugspersonen bedingen.

Sexualerziehung beginnt nicht mit dem Einsetzen der Pubertät, sondern ist bereits vorher ein allgemein wichtiger Aspekt innerhalb jeder Erziehung von Kindern. So sind die vielfältigen, vorwiegend familiären Erfahrungen mit Zärtlichkeit und Berührungen, mit Ausdruck von Freude und Zuneigung sowie Zuwendung bei der körperlichen Pflege eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Einstellungen zum eigenen Körper.

Das Erleben von unterschiedlichen Verhaltensweisen im Privatbereich und in der Öffentlichkeit, von anderen Begrüßungs- und Umgangsformen zwischen Freunden bzw. Verwandten im Gegensatz zu Fremden sind wichtige Erfahrungen. Auch das Einhalten von Konventionen, die Kleidung, Körperpflege und den Intimbereich betreffen, sind wesentliche Voraussetzungen für das Erlernen von angemessenem Verhalten.

Gerade die große Offenheit und das Vertrauen anderen Menschen gegenüber macht erforderlich, dass sowohl Jungen als auch Mädchen lernen müssen, eine angemessene Distanz zu halten und klare Kriterien zu haben, um Missbrauch zu vermeiden. Dazu gehört auch, die Jugendlichen zu befähigen, in kritischen Situationen angemessen verbal reagieren zu können. (Hau ab! Ich schrei!) oder zu wissen, wie Hilfe erlangt werden kann.

Das Erlernen der Monatshygiene verlangt eine differenzierte Unterstützung von Elternhaus und Schule, ist jedoch von den meisten Frauen zu bewältigen. Es ist aber notwendig, die Mädchen vorbereitend zu informieren, um Ängste und Verunsicherungen zu vermeiden. Eine besondere Bedeutung kommt auch einer verstehbaren Information über den Frauenarztbesuch zu und einer Begleitung i.d.R. durch die Mutter oder einer anderen weiblichen Vertrauensperson. Für Jungen gilt in ähnlicher Weise, dass sie über typische körperliche Veränderungen dem individuellen Verständnis entsprechend informiert werden sollten. Sie müssen wissen, dass nächtlicher Samenerguss und auch Selbstbefriedigung normal sind – aber lernen damit angemessen umzugehen und Konventionen zu beachten. Zudem sind Aspekte geschlechtstypischer Körperpflege zu vermitteln, einschließlich Rasieren.

Die meisten nichtbehinderten Jungen (95 %) und viele Mädchen (60 %) masturbieren (vgl. Achilles, 1990, 43). Auch eine Befragung zum Verhalten von Jugendlichen mit DS ergab, dass etwa die Hälfte der Jungen und ein Drittel der Mädchen sich selbst befriedigen (Buckley / Sacks, 1987, 110). Aufgabe der Sexualerziehung ist es, den Jugendlichen angemessenes Verhalten zu vermitteln, um sonst mögliche Probleme zu vermeiden. Vor allem wenn bei Masturbation Privatheit nicht beachtet wird, entstehen Missverständnisse und Schwierigkeiten. Zwar wird allgemein akzeptiert, dass Selbstbefriedigung normal ist und individuell positive Effekte haben kann, aber es wird erwartet, dass solches Verhalten nicht “stört”.

Insgesamt ist festzustellen, dass die meisten Eltern keine Vorbehalte haben, die sexuellen Wünsche ihrer behinderten Kinder zu akzeptieren, aber sie sind besorgt, dass unangepasstes Verhalten, vor allem bei ihren Söhnen, zu Problemen im sozialen Umfeld führen kann (vgl. Buckley / Sacks, ebd.). Bei Mädchen dominieren dagegen stärkere Sorgen bezogen auf sexuellen Missbrauch und mögliche Schwangerschaft.

Für die meisten Jugendlichen mit DS ist vor allem der Bereich der Freundschaft und Zärtlichkeit von großer Bedeutung. Sie wünschen sich – wie andere Jugendliche auch – einen Partner zum Erzählen, zum Tanzen, Schmusen und Küssen. Sie wollen sich geliebt und angenommen fühlen und das eben nicht nur in der Familie, sondern in symmetrischer Kommunikation mit einem richtigen Freund bzw. einer Freundin. Dabei sind die Wunschvorstellungen über das Aussehen von Freundin bzw. Freund meistens – wie bei vielen Gleichaltrigen – geprägt von den Medien; oft beziehen sich die Wünsche auch auf bestimmte SängerInnen oder SchauspielerInnen. Es ist deshalb wichtig, den Jugendlichen Hilfen zu geben, um sich mit ihren Vorstellungen und Wünschen differenzierter auseinandersetzen zu können.

Oftmals äußern Jugendliche auch das Bedürfnis nach Nähe und Zusammensein und nach Gestaltung eines gemeinsamen Wochenendes mit Freund bzw. Freundin. Zunehmend mehr Eltern sind bereit, auf solche Wünsche einzugehen, weil sie Freundschaft und Partnerschaft als ein normales Recht akzeptieren. Die oft erkennbaren recht positiven Auswirkungen auf das Verhalten ihrer Söhne und Töchter zeigen ihnen zudem die Bedeutung solcher Beziehungen.

Partnerschaft und Kinderwunsch

Die Genitalsexualität hat für Menschen mit DS oft nur einen nachrangigen Wert (vgl. Fraas, 1996, 127). Aber für viele Jugendliche gehört zur Liebe und Partnerschaft durchaus auch die Erfüllung primärer sexueller Bedürfnisse. Aufgabe der Sexualerziehung ist es deshalb, dem individuellen Verständnis und den jeweiligen Bedingungen entsprechend, mit Frauen und Männern Fragen zu Partnerschaft und Prävention von gesundheitlichen Risiken – und nicht nur zur Empfängnisverhütung – zu behandeln. Eine Verkürzung der Diskussion auf rechtliche Fragen zur Sterilisation kann dagegen die eigentlichen Probleme noch verstärken (Missbrauch, Ansteckung).

Besonders auf den häufig geäußerten Kinderwunsch ist einfühlsam einzugehen, denn für viele Jugendliche ist nicht allein Partnerschaft wichtig, sondern auch zu heiraten und Kinder zu bekommen (vg. Müller-Erichsen, 1996, 261). Dem durch Filme, Werbung und Spielzeug (Barbie-Puppen) vermittelten Klischeebildern von Familie sind verschieden Modelle für das Leben als Erwachsene gegenüberzustellen (z.B. berufstätige und allein lebende Erwachsene, Leben in Wohngemeinschaften u.a.). Auch ist zu reflektieren, dass gerade junge Mädchen oft schon sehr früh den Wunsch nach einem Baby (nicht nach einem Kind!) äußern und damit meistens keine klaren Vorstellungen verbinden.

Bei Frauen mit DS ist von einer wahrscheinlich verringerten Fertilität trotz überwiegend normaler ovarieller Funktion auszugehen, aber Schwangerschaften sind möglich. Dokumentiert sind mehr als 30 Schwangerschaften, wobei sowohl Kinder mit normalem als auch mit trisomem Chromosomensatz geboren wurden. Dabei lagern aber auch bei normalem Chromosomenbefund aufgrund der besonderen gesundheitlichen Bedingungen der Mutter oftmals zusätzliche Beeinträchtigungen vor.

Männer mit DS sind zwar nicht impotent, aber aufgrund bisheriger Erkenntnisse gelten sie als fast immer steril (bei Vorliegen einer Mosaikform wird von anderen Bedingungen ausgegangen, vgl. Caffrey).

Diskussionen in Elterngruppen zu Sexualität, Liebe, Partnerschaft und Kinderwunsch machen unterschiedliche Fragen und Probleme deutlich, die Eltern von Töchtern und Eltern von Söhnen haben. Während bei Söhnen meistens über Selbstbefriedigung und schwieriges Verhalten gesprochen wird, bereitet den Eltern von Töchtern die häufige unkritische Kontaktaufnahme zu Fremden Sorgen. Als besonders problematisch wird eine mögliche Schwangerschaft gesehen. Auch wenn viele Eltern im offenen vertrauensvollen Verhalten ihrer Söhne oder Töchter gegenüber anderen Menschen eine erhöhte Gefährdung für sexuellen Missbrauch sehen, empfinden die meisten es als schwierig, wie sie auf dieses Verhalten reagieren sollen, ohne dadurch die positive Grundhaltung ihrer Kinder unangemessen zu verändern.

Insgesamt gibt es in Elterngesprächen immer eine hohe Übereinstimmung, was die Akzeptanz von Sexualität und Partnerschaft betrifft. Eine Elternschaft wird jedoch für Menschen mit DS aus verschiedenen Gründen fast übereinstimmend abgelehnt. Dabei kommt auch den besonderen genetischen und gesundheitlichen Problemen aufgrund der Trisomie eine wesentliche Bedeutung zu. Aber auch aufgrund der eingeschränkten kognitiven und lebenspraktischen Kompetenzen halten viele Eltern ihre Töchter und Söhne für nicht fähig, verantwortliche Elternschaft zu übernehmen. Und die meisten Eltern lehnen es ab, für das Enkelkind dann erneut die Verantwortung zu tragen. Es ist deshalb wichtig, auch mit den Jugendlichen nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten solche Themen anzusprechen, um sich realistisch und differenziert mit Zukunftsperspektiven auseinanderzusetzen.