Reflexintegration

Reflexintegration – oder der Weg zum reifen Gehirn durch sanfte Bewegungen
von Doreen Schaefer

 

Ist es nicht faszinierend? Neun Monate lang tragen wir unser Kind im Bauch; aus wenigen Zellen entwickelt sich innerhalb weniger Monate ein zauberhaftes Wesen, welches uns von der ersten Minute an in seinen Bann zieht.

Zum Zeitpunkt seiner Geburt ist unser Kind im Normalfall grundsätzlich lebensfähig, es kann atmen, sein Herz schlägt, es ist in der Lage zu trinken und Bewegungen auszuführen.

Diese „neuronale Grundausstattung“ ist ein genetisches Programm, welches das Überleben sichert. All diese Funktionen sind physiologisch gesehen lebenslange Reflexe; wir denken nicht darüber nach zu atmen oder daran, dass unser Herz schlagen muss….

Warum ist das so?

Das Gehirn eines Neugeborenen ist noch nicht vollständig entwickelt, denn unsere komplexen Gehirne reifen und wachsen erst in den nächsten 12 – 36 Monaten nachgeburtlich über den Stimulus frühkindlicher Reflexe hinaus. Das ist notwendig, da wir Menschen einen vergleichsweise engen Geburtskanal haben. Mit einem ausgewachsenen Gehirn wäre eine natürliche Geburt unmöglich.

Die Natur schlägt diesem Problem ein Schnippchen, indem sie den Neugeborenen die Grundausstattung zum Überleben zur Geburt mitgibt und die weitere Reifung der Steuerzentrale über frühkindliche Reflexe vorantreibt.

Frühkindliche Reflexe unterscheiden sich nicht nur dem Namen nach von lebenslangen Reflexen. Das Kind reagiert mit Reflexbewegungen auf Reize wie Licht, Geräusche, Kontaktaufnahme, Druck, Schwerkraft etc.

Alle Bewegungen, die ein Neugeborenes ausführt, sind nicht aktiv gesteuert, sondern frühkindliche Reflexbewegungen. Sei es das Strampeln, das Saugen, das Köpfchen drehen – es findet zu Beginn noch nicht „gewollt“, sondern als Reaktion auf einen Reiz statt.

Auf diese Weise vernetzen sich Billarden von Gehirnzellen miteinander, es entstehen stabile neuronale Verbindungen ähnlich einem guten Straßenverkehrsnetz, das Gehirn reift und alle Teile und Sinne des Körpers werden an die Schaltzentrale angebunden.

Das Baby entwickelt die Fähigkeit, sich zu drehen, den Kopf stabil zu halten, zu robben, zu krabbeln, zu gehen, zu sprechen, zu denken.

Dem Auftauchen dieser frühkindlichen Reflexe unterliegt ein gewisses genetisches Schema. Dieses beginnt schon im Mutterleib, nach der Geburt werden die Reifestadien durch das Erreichen der sogenannten Meilensteine sichtbar.

Wird ein Meilenstein wesentlich früher oder viel später erreicht, vielleicht sogar übersprungen, wird ein Teil der neuronalen Reifung übersprungen, und frühkindliche Reflexe bleiben als Störer aktiv. Die frühkindlichen Reflexe geben uns also einen Hinweis auf die neuronale Reife eines Menschen.

Einen besonderen Stellenwert nimmt hier das Krabbeln ein. Wurde dies ausgelassen, nur kurz geübt oder eine Alternativform der Fortbewegung entwickelt, sind bei den meisten Kindern noch verbleibende frühkindliche Reflexe zu beobachten.

Korrekterweise überprüfen die Kinderärzte bei Untersuchungen zwar das regelrechte Auftauchen der frühkindlichen Reflexe, allerdings wird nicht überprüft, ob diese zu gegebener Zeit konsequent zu lebenslangen Haltungsreflexen ausreifen.

Man geht davon aus, dass circa 17 – 20 Prozent der Bevölkerung aktive frühkindliche Reflexe besitzen.

Dabei kann man sagen, je mehr Reflexe über ihr eigentliches Zeitfenster hinaus aktiv sind, desto höher ist die Gefahr späterer Beeinträchtigungen sowohl in der körperlichen wie auch der kognitiven Entwicklung.

Beispielsweise gehen ein Großteil der beobachtbaren häufigsten Lernprobleme auf aktive Reflexe mit dem Namen ATNR und STNR zurück. Erkennbar ist dies unter anderem an der Sitzhaltung, am Beineunterschlagen, Beine um den Stuhl wickeln, wie ein Sack über dem Schreibtisch hängen, im W-Sitz sitzen oder das Heft beim Schreiben drehen.

Auch im Bereich der Mundmotorik spielen Reflexe eine Rolle. So kann ein aktiver Such- und Saug-Reflex auch bei intensiver logopädischer Behandlung weiter Probleme bei der Aussprache bereiten, beispielsweise der Zungenposition im Mund oder dem Speichelfluss.

Besonders herausfordernd für Kinder ist auch der Moro-Reflex, einer der sogenannten Stressschutzreflexe.

Dieser führt bei vielen Menschen zu einer Reizüberflutung, es ist „zu laut“, „zu hell „zu voll“.

Bei aktiven Stressschutzreflexen bekommt das Gehirn alle sensorischen Reize ungefiltert übermittelt; man reagiert in Stresssituationen mit Rückzug oder „aggressiven“ Verhaltensweisen. In der Schule blendet das Blatt, die Buchstaben tanzen, Fokussierung und Konzentration sind nur sehr schwer möglich. Alles scheint sehr viel Energie und Kraft zu kosten. Erschöpfung auf geistiger und körperlicher Ebene ist hier vorprogrammiert.

Bei Reaktivierung dieses Reflexes kann es zur Regression, dem Zurückfallen auf eine frühere Entwicklungsstufe im Verhaltensbereich kommen, wie zum Beispiel Problemen beim Ein- und Durchschlafen, klammern, jammern, Trotzphasen.

Grundsätzlich gibt es 2 Möglichkeiten: Entweder der Reflex hat sich von Beginn an nicht integriert, oder er wurde wieder aktiv.

Vor allem bei Stress und Sorgen in der Schwangerschaft und schwierigen Geburten beobachten wir häufig bestehende Restreflexreaktionen oder eine Entwicklungsverzögerung in der neuronalen Reife.

Auch bei Kindern mit Trisomie 21 beobachten wir oft aktive frühkindliche Reflexe.

Diese erschweren zusätzlich Dinge wie den Aufbau des Muskeltonus in Oberkörper und Rücken, verursachen Probleme beim Schwimmenlernen, Augenfolgebewegungen, der Hörentwicklung und sorgen für zusätzliche Herausforderungen im Mundtonusbereich, der grundsätzlichen Fähigkeit des Erlernens von Fahrradfahren, Einnässen und vieles mehr.

Hierbei muss man sich natürlich bewusst sein, dass Reflexintegration als Therapieform kein Wunder vollbringen kann. Vielerorts wird mit falschen Heilversprechen geworben, von unseriösen Anbietern.

Unserer Erfahrung nach macht es aber Sinn, die Integration von frühkindlichen Reflexen überprüfen zu lassen, wenn gewisse Symptomhäufungen zu beobachten sind, da hier über die Integration der Reflexe die Basis geschaffen werden kann, für Weiterentwicklung und Lernen, egal auf welcher Ebene.

Im deutschsprachigen Raum ist diese Therapieform teilweise noch recht unbekannt, und es gibt vergleichsweise wenig Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten. Hier sind uns andere Länder weit voraus. In den Staaten werden beispielsweise frühkindliche Reflexe von den meisten functional therapists automatisch mit überprüft und integriert.

Worauf gilt es zu achten, wenn man sich für Reflexintegration als unterstützende Therapieform interessiert?

Es gibt derzeit im deutschsprachigen Raum bereits mehrere Anbieter. Hier sollte man aber genau nachfragen, welche Form der Qualifikation der Anbieter hat. Es gibt viele Reflexintegrationstrainer ohne therapeutischen Hintergrund, welche Basiswissen in einem Wochenendkurs erworben haben.

Im Falle eines Kindes „mit dem gewissen Extra“, sind nicht alle Trainer /Therapeuten fachlich dazu in der Lage zu behandeln. Gerade im Bereich der atlantoaxialen Instabilität und der Hypotonie muss besondere Vorsicht geboten sein, da nicht alle Übungen für Kinder mit Down Syndrom empfehlenswert sind.

Fragen Sie daher genau nach, ob ihr Ansprechpartner hierfür explizit qualifiziert ist und um die medizinischen Besonderheiten weiß.

Wie aufwendig ist Reflexintegration eigentlich und was kann man sich darunter vorstellen?

Im Normalfall findet alle 1 – 2 Monate ein Termin zur Überprüfung statt. Hier wird geschaut, ob der jeweils fokussierte Reflex bereits integriert ist. Ist dies der Fall, werden die Übungen angepasst und es wird mit der Integration eines neuen Reflexes begonnen. Je nach Anzahl der aktiven frühkindlichen Reflexe dauert die Therapie in der Regel 6 – 12 Monate.

Zu beachten ist hier aber, dass das Kind das Tempo bestimmt. Einige Dinge gelingen schneller, andere brauchen Zeit. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, wichtig ist, dass alles ohne Druck passiert. Denn Druck erzeugt Stress, und unter Stress ist eine neuronale Reifung kaum möglich.

Die Übungen finden größtenteils im Liegen, Stehen oder einer Alternativposition statt. Von außen erinnern manchen Übungen ein wenig an Yoga. Das regelmäßige Üben schafft fehlende „Autobahnen“ im Gehirn und zwischen Hirn und Körper.

Dabei ist es gut möglich, auf den jeweiligen körperlichen Zustand des Kindes einzugehen und mit Hilfen unterstützend zu arbeiten.

Reflexintegration
Schaeferbildung.de
Doreen Schäfer
Freilassing

Reflexintegration wird auch im Down-Syndrom Zentrum  Leben Lachen Lernen in Leoben angeboten.