Schwestern im Wandel der Zeit

Kati, Hanni und Maria – Schwestern im Wandel der Zeit

Erfahrungsbericht von Monika Hallbauer, geschrieben für die Sonderausgabe “Geschwister” der Zeitschrift “Mitmachen” der Lebenshilfe Wien

Da ich kurzfristig um einen Beitrag zum Thema “Geschwister” gebeten wurde, habe ich einen Geschwisterartikel hervorgeholt, den ich vor sieben Jahren für die österreichische Down-Syndrom-Zeitung “Leben Lachen Lernen” geschrieben habe und möchte ihn etwas gekürzt an den Anfang meines Beitrags stellen:

Ich heiße Monika Hallbauer und bin glückliche Mutter von drei Mädchen: Maria – 5 Jahre, Hanni und Kati (Down-Syndrom) –  2 Jahre. Glücklich, obwohl wir uns unsere Familie ursprünglich etwas anders vorgestellt hatten. Die Nachricht Zwillinge zu bekommen war schon nicht leicht zu verdauen. Aber spätestens unsere Entdeckung auf der Frühgeborenenstation, dass unsere Drittgeborene Down-Syndrom hat, erwischte uns auf dem falschen Bein.

Da wir jedoch körperlich gefordert waren – Sorgenkind Hanni musste aufgrund ihrer Gewichts- und Atemprobleme ständig überwacht werden – blieb uns keine Zeit um durchzuhängen.

Endlich zu Hause hatte sich Maria bald einen Liebling unter den Zwillingen ausgesucht, nämlich Kati, wahrscheinlich weil diese viel anspruchsloser war im Vergleich zu Hanni, die häufig weinte. So musste ich mir eines Tages, als ich wieder einmal die nicht zu beruhigende Hanni herumtrug, von Maria in überheblichen Ton sagen lassen: “Dein Baby weint, meines ist brav!” Da sie weiters bemerkte, dass ich nun nicht mehr so viel Zeit für sie hatte wie zuvor, da zwei Babys viel Arbeit bedeuteten, unterbreitete sie mir ein anderes Mal den Vorschlag: “Die Hanni soll wieder in deinen Bauch zurück!” Abgelehnt! Das war weder in meinem Sinne noch machbar.

Es vergingen die ersten Monate, der Nebel begann sich zu lichten, und ich schaltete von Automatik wieder auf Handbetrieb. Ich besuchte das erste Mal ein Treffen der Selbsthilfegruppe in Wien – ein sehr positives Erlebnis – und stellte fest, dass ich bisher noch nicht auf die Idee gekommen war, Maria zu erzählen, dass Kati Down-Syndrom hat.

Ich wartete also einen günstigen Zeitpunkt ab und erklärte Maria in knappen Worten: “Hanni kann schon dem Mobile nachschauen und lachen, Kati noch nicht. Weißt Du, sie lernt alles langsamer, denn sie hat Down-Syndrom!” Es kam zwar keine Reaktion von ihr, ich war aber trotzdem erleichtert, denn dieses Thema war endlich einmal auf dem Tisch und somit kein Tabu mehr.

Die nächsten Monate ließ ich gelegentlich noch ähnliche Bemerkungen fallen, bis eines Tages die erste Reflexion von Maria kam. Sie stand mitten in einem Geschäft und trällerte laut vor sich hin: “Down-Syndrom, Down-Syndrom …”.

Als die Zwillinge 8 Monate alt waren und Hanni unter anderem schon sitzen und krabbeln konnte, bemerkte ich das erste Mal, dass Maria sich selbst mit der unterschiedlichen Entwicklung der beiden auseinandersetzte. Sie machte mich erst darauf aufmerksam, was Hanni schon alles gelernt hatte und fragte mich danach einzeln nach dem Altern ihrer Schwestern. Auf meine Antwort “Beide sind 8 Monate!” erwiderte sie nur erbost: “Das glaub ich dir nicht!”. Ich wiederholte also geduldig meine Erklärung und wartete erneut ab. Nun, lange brauchte ich nicht zu warten, bis Maria bei einem Spaziergang eine ähnliche Bemerkung gegenüber einer fremden Frau machte: “Wir haben zu Hause Zwillinge! Eine ist 1 Jahr und die andere 2 Jahre!”. Wieder nicht ganz richtig, zurück an den Start.

Einen echten Fortschritt in diesem Prozess stellte für mich erstmals folgende Episode dar: Ich unterhielt mich mit Maria über ihre Lieblingshose und wer sie später einmal tragen würde. Maria: “Sicher die Hanni. Die Kati wächst ja so langsam, die macht alles langsamer. Die Hanni ist auch früher aus deinem Bauch gekommen. Sie ist so (läuft schnell durchs Zimmer) aus deinem Bauch gelaufen, und Kati ist ganz laaangsaaam (watschelt daher) als letzte rausgegangen!”

Marias erstes Zusammentreffen mit anderen Menschen mit Down Syndrom fand bei einem Faschingsfest der Selbsthilfegruppe statt als sie 4 Jahre alt war. Entgegen meiner Befürchtungen gefiel es ihr dort gut. Als ich sie auf Kinder mit Down-Syndrom in ihrem Alter aufmerksam machte, fragte sie nur: “Wer?”, drehte sich um und konnte offensichtlich nichts Besonderes an diesen Kindern entdecken.

Auch Maria und Johanna verbrachten immer mehr Zeit miteinander, teils harmonisch, manchmal “flogen aber auch die Fetzen”. Was die eine hatte, musste die andere auch haben. Diese Rivalität gipfelte einmal doch tatsächlich darin, dass jeder der beiden als erstes die Nase eingetropft haben wollte!

Manchmal schien es Maria zu stören, dass ihr Liebling Kati für  einzelne Entwicklungsschritte länger benötigte als Hanni. So behauptete sie einmal aufgeregt, als Kati noch nicht gehen konnte: “Mama, die Kati ist gerade 21 Schritte gegangen!”.

Vor kurzem führte ich mit Maria folgende Unterhaltung beim Zubettgehen: Wieder einmal fragte sie mich, warum Hanni größer war und mehr konnte als Kati. Mama: “Weil Kati Down-Syndrom hat.” Maria weinerlich: “Ich will das nicht, ich bin traurig!” Mama: “Ja, am Anfang waren wir auch traurig, aber jetzt haben wir Kati so lieb, dass wir nicht mehr traurig sind!” Maria: “Wir könnten den lieben Gott bitten, dass er der Kati das Down-Syndrom wegnimmt!” Mama: “Das geht nicht, zaubern kann der liebe Gott auch nicht!” Maria: “Dann zauber’ ich’s der Katharina weg. – Abarakadabara …!” Mama: “Wenn die Kati kein Down Syndrom mehr hat, dann ist sie aber nicht mehr unsere Kati, dann ist sie vielleicht nicht mehr fröhlich und lacht so lieb, sondern ist genauso raunzig wie die Hanni oder du jetzt!” Maria überlegte eine Weile und hatte dann endlich einen neuen Grund zum Raunzen gefunden: “Ich will auch ein Stück Down-Syndrom!”

Maria wird demnächst 5. Immer wieder stellt sie mir Fragen, wie z.B. “Wird die Kati auch noch Down-Syndrom haben, wenn sie groß ist?” Durch solche Fragen hat sie viel dazugelernt. Neulich entdeckte sie selbst, dass am Nebentisch ein kleiner Bub mit Down-Syndrom saß.

Um Maria zuletzt für diesen Artikel noch ein aktuelles Statement zum Thema “wie sich Maria allmählich mit Katis Anderssein auseinandersetzt” zu entlocken, eröffnete diesmal ausnahmsweise ich das Gespräch und fragte sie: “Was kann Hanni, was Kati nicht kann?” Ihre spontane Antwort: “Mit den Fingern schnippen!”. Zur Erläuterung: Hanni kann bereits seit einiger Zeit mit den Fingern schnippen, Kati natürlich nicht, aber, was noch viel wichtiger ist, auch Maria ist dies, trotz häufigen Übens, noch nie gelungen! Diese abschließende Episode zeigt mir, dass sich Marias Blick für das Wesentliche doch noch deutlich von dem eines Erwachsenen unterscheidet. Zu beurteilen, ob das nun gut oder schlecht ist, überlasse ich jedem einzelnen selbst.

So also schilderte ich unsere Familien- und Geschwistersituation vor sieben Jahren, und wie sieht es heute bei uns zu Hause aus?

Kurz zu meinen Muttergefühlen: ich bezeichnete mich damals als glücklich: heute gehe ich mit dem Wort glücklich etwas sparsamer um. Im Rückblick stellen sich mir meine Gefühle damals als eher euphorisch dar. Das lag an meiner Freude mit und an meinen drei Kindern, eine Freude, die langfristig auch durch die Diagnose Down-Syndrom nicht getrübt werden konnte. Im Gespräch mit anderen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir uns um kein bisschen unglücklicher fühlen als andere Eltern, abgesehen von einer begrenzten Anfangszeit. Wir fühlen uns gelegentlich mehr belastet oder nicht ausreichend unterstützt, aber das hat prinzipiell keinen Einfluss auf unser Glücksempfinden.

Und nun zur Geschwistersituation heute: Grundsätzliches hat sich nicht geändert. Die Rivalität zwischen Maria und Hanni gibt es abgeschwächt noch immer (obwohl jetzt auch Maria großartig mit den Fingern schnippen kann). Beide Schwestern lieben Kati und sie haben – laut ihrer Aussage – nicht das Gefühl, wegen ihrer Schwester zu kurz zu kommen.

Die mittlerweile 12-jährige Maria, die Kati immer noch als ihre Lieblingsschwester bezeichnet, findet es “lustig”, Kati als Schwester zu haben, da sie bei jedem Spaß dabei ist. Sie kann sich derzeit gut vorstellen, selbst ein Kind mit Down-Syndrom zu haben.

Die 9-jährige Zwillingsschwester Hanni, geht mit Kati gemeinsam in die gleiche Klasse, da es bei uns im Ort nur eine dritte Klasse gibt. Sie fürchtet, laut ihrer Aussage, den Tag, an dem sie von Kati schulisch getrennt wird. Hanni hat eine beste Freundin, mit der sie viel zusammen ist. Sie spielt aber auch gerne und ausgiebig mit Kati, z.B. Schule (sie ist dann natürlich die Lehrerin und Kati muss lesen lernen), Duplo oder mit den Stofftieren. Manchmal beschäftigen sich die Schwestern auch zu dritt, das sind dann entweder motorische Spiele wie tanzen, “Schaukämpfe auf allen Vieren”, etc. oder sie blödeln miteinander, ein Gebiet, auf dem Kati nicht nur mithalten kann, sondern uns allen, die wir auch nicht schlecht sind, vor allem in Punkto Mimik haushoch überlegen ist.

Da Kati nur wenig spricht, sind für Hanni die Begriffe Down-Syndrom und Behinderung derzeit noch sehr eng damit verknüpft, ob jemand sprechen kann.  Sie ist stolz darauf, Katis Sprache zu verstehen und zu sprechen. Kinder mit Down-Syndrom, die also gut sprechen, und sie kennt einige aus einer integrativen Theatergruppe, empfindet sie als “normal”.

Trotz dieser durchwegs positiven Aussagen, sehe ich, dass in unserer besonderen Familiensituation auch von den Schwestern weitaus mehr erwartet wird, als von anderen Kindern. Dazu ein Beispiele:  Spazierengehen: Kati geht vor allem dann brav, wenn sie die erste ist. Obendrein ist sie, wenn sie sich einmal in die Büsche schlägt, dort nicht mehr leicht herauszubekommen, weil Büsche es so an sich haben, dass kleine Leute leichter durch kommen als große. Wenn wir also weiterkommen wollen, was erwarten wir von Hanni und Maria? Lauft nicht vor und bleibt am Weg! Obwohl es sonst das Natürlichste wäre, vorzulaufen und ab und zu einen Abstecher in den Wald zu machen! Generell sind also Wanderungen, die für die anderen adäquat wären, kaum möglich.

Ein anderer, nicht zu unterschätzender Aspekt, ist der Raum, den “Down-Syndrom”, gar nicht unbedingt Kati selbst, bei uns im Haus einnimmt. Zu diesem Thema, Katis Thema, treffe ich mich immer wieder mit anderen Eltern, lese Bücher oder höre Vorträge. Ein vergleichbares “Motto” haben die Schwestern nicht aufzuweisen und da liegt vor allem im Rückblick bei mir die Vermutung nahe, dass manche Aktionen, die die beiden unbewusst geliefert haben, (ob schulisch, gesundheitlich oder sonstiges) darauf zurückzuführen waren, dass auch sie einmal im Mittelpunkt stehen wollten.

Da wir diese und andere Einschränkungen sehen, und die Zeit, die wir Hanni und Maria für gewisse Aktivitäten begeistern können, natürlich auch nicht endlos ist, haben wir uns entschlossen, einmal jährlich ohne Kati Urlaub zu machen. Kati wird in der Zwischenzeit liebevoll bei den Großeltern aufgenommen und genießt es, als “Einzelkind” eine Rundumbetreuung zu bekommen.

Die Tatsache, dass Maria und Hanni eine Schwester mit Down-Syndrom haben, bringt für sie aber sicher nicht nur Nachteile. Gäbe es ein Zeugnis, in dem Fächer angeführt wären wie: Rücksicht nehmen, Verständnis haben, Vorbild sein, Nachgeben können oder aufmerksam sein, dann wären die beiden sicherlich Klassenbeste. Ich merke immer wieder, wie sensibel sie auf Ungerechtigkeiten in der eigenen Klasse reagieren, wenn z.B. ein Kind von anderen verspottet oder aus einer Gruppe ausgeschlossen wird.

Ich denke, dass sich die Geschwistersituation bei uns zu Hause aus folgenden Gründen relativ unkompliziert gestaltet:

  • Wir Eltern leben den beiden vor, dass wir selbstbewusst zu Kati stehen.
  • Wir sehen die Einschränkungen, die Maria und Hanni erleben, und versuchen sie so weit es geht auszugleichen.
  • Wir haben dem Anderssein Katis gegenüber unseren Töchtern schon sehr früh einen Namen gegeben und sie waren nach ihren Möglichkeiten immer darüber informiert, was Down-Syndrom ist.
  • Hanni und Maria sind zu zweit in ihrem Schicksal, eine Schwester mit Down-Syndrom zu haben, und müssen somit gewisse Privilegien, die Kati aus ihrer Sicht möglicherweise genießt, nicht als persönliche Benachteiligung sehen.
  • Wir haben bis jetzt in unserer Umgebung kaum negative Erfahrungen auf menschlicher Ebene gemacht, wahrscheinlich dank Katis fröhlicher, offener Art, (und das, obwohl Kati seit 2 Jahren noch ein zusätzliches Handicap hat: sie hat Haarausfall und derzeit fast keine Haare mehr).

All das für mich zu erkennen und zu beherzigen war natürlich ein allmählicher Prozess. Einerseits habe ich einfach aus dem Bauch heraus gehandelt, andererseits habe ich mich intellektuell mit dem Themenkreis auseinandergesetzt. Ich tausche mich regelmäßig mit anderen Betroffenen aus, besuche immer wieder Vorträge und Workshops und habe bei Problemen Beratungen (z.B. in der Märzstraße, einem Ambulatorium für Entwicklungsdiagnostik) in Anspruch genommen. Das macht mich zwar bei weitem nicht unfehlbar, aber ich fühle mich doch auch in turbulenten Zeiten zumindest meistens als Herr/Frau der Lage.

Zuletzt noch eine Anmerkung: meine Art und Weise mit den Dingen umzugehen muss und kann natürlich nicht der Weg von anderen sein, denn jeder Mensch ist anders und jede Familie erst recht.

Monika Hallbauer
monika.hallbauer@kabsi.at