Tamo Therapie

von Ingrid Tscharnuter, Physiotherapeutin, New York

TAMO Therapie ist eine neue Behandlungsmethode für neurologische und orthopädische Bewegungsstörungen. Diese Therapie wurde von Ingrid Tscharnuter, Physiotherapeutin und Gründerin von TAMOTM, Tscharnuter Akademie for Movement Organization, New York, entwickelt (1,2,3) und wird seit 1991 international in Seminaren, auf Universitäten und in klinischen Fortbildungskursen gelehrt. TAMO Therapie unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Behandlungsmethoden in der Theorie, in den Behandlungsprinzipien und in den Handhabungstechniken. Der folgende Bericht fasst einige der wichtigsten Konzepte zusammen.

Theorie

TAMO beruft sich auf moderne, physikalische und neurophysiologische Theorien der Dynamik (4,5,6). Im Widerspruch zu traditionellen Theorien wird angenommen, dass Bewegungsmuster nicht an bestimmte Strukturen des Zentralen Nerven Systems (ZNS) oder an genetisch vorbestimmte, zentrale Motorprogramme gebunden sind. Nach dem grundlegendem Konzept der “Selbstorganisation von komplexen, dynamischen Systemen” werden stabile Bewegungsmuster durch die nichtlineare Wechselwirkung zwischen vielen, relevanten Systemen und Kräften spontan geformt, ohne dazu eine genaue, innere Repräsentation dieses Musters zu benötigen. Es kommt zu einer kooperativen Interaktion zwischen: a) internen, vom ZNS beeinflussbaren Komponenten, b) externen, auf den Körper einwirkenden Kräften und c) den, mit der jeweiligen Handlung verbundenen Gegebenheiten. Einflüsse von äußeren Kräften, wie Schwerkraft, Gegenkraft von der Unterstützung, Trägheitsmomente, ändern sich mit der Tätigkeit und erfordern eine entsprechende Anpassung der neuromuskulären Kräfte. Die resultierende Bewegungsorganisation ist daher immer spezifisch für die jeweilige Tätigkeit, die bestehenden Umwelteinflüsse und die momentanen Möglichkeiten und Einschränkungen des Handelnden. Das Konzept der dafür erforderlichen funktionellen und strukturellen Variabilität widerspricht dem traditionellem Konzept von standardisierten, hierarchisch angeordneten Bewegungsmustern, wie Stell- und Gleichgewichtsreaktionen.

Die spontane Selbstorganisation von Bewegungsmustern sowie das Wechseln von habituellen zu neuen Bewegungsmustern unterliegen dynamischen und biologischen Gesetzen. Dabei spielt die Verteilung der, auf den Körper einwirkenden inneren und äußeren Kräfte eine maßgebende Rolle.

Zum Unterschied von traditionellen Theorien werden Bewegungen und Handlungen nicht als Reaktion auf sensorische Reize gesehen. Dynamische Gesetze besagen, dass keine eindeutige, lineare Beziehung zwischen Input in das System und Output aus dem System besteht. Das Bewegungssystem wird als vorwiegend “selbstinitiativ” beschrieben; wir benötigen nicht auslösende, sensorische Reize, sondern suchen aktiv und selektiv die Informationen in der Umwelt, die für die gegebene Handlung wichtig sind. So kommt es zu einer fruchtbaren Wechselwirkung zwischen aktiver Perzeption und motorischen Fähigkeiten (7,8). Die TAMO Interpretation von perzeptiven Fähigkeiten weicht vom traditionellen Modell ab und beruft sich auf James Gibsons Beschreibung von aktiven Wahrnehmungssystemen (7).

Einfluss dynamischer Theorien auf TAMO Behandlungsprinzipien

Entsprechend dynamischen Prinzipien nimmt die koordinierte Beziehung zwischen den Kräften, die für die jeweilige Bewegung bestimmend sind, größte Bedeutung an. Dabei wird die Interaktion mit konstanten Kräften, wie Schwerkraft und Gegenkraft von der Unterstützungsfläche wegen des großen Einflusses auf die Entwicklung von perzeptiven und motorischen Fähigkeiten besonders betont. Diese Entwicklung wird durch das aktive Erforschen von vielen Bewegungsmöglichkeiten und deren perzeptiver Konsequenzen gefördert. Dabei nimmt vor allem die Dynamik und Anpassungsfähigkeit von Bewegungen eine wichtige Rolle an. Anstatt ganz bestimmte Bewegungsmuster zu facilitieren, ist das Ziel in der TAMO Therapie, günstige Bedingungen für eine spontane Selbstorganisation koordinierter und effizienter Bewegungen dadurch herzustellen, dass die Kräfteverteilung dementsprechend geändert wird. Dies kann durch gezieltes, dynamisches Belasten in der Handhabung, durch Modifikation des Umfeldes oder durch die Intention des Patienten bewirkt werden. Sensorische Reize werden nicht eingesetzt; hingegen tritt das Einholen und Vermitteln handlungsspezifischer Information, das auf perzeptiven Fähigkeiten beruht, in den Vordergrund.

TAMO Therapie versucht, Patienten zu lehren: wichtige Information durch entsprechendes Orientieren zur Umwelt einzuholen; äußere Kräfte optimal auszunützen, um die bestmögliche Bewegungseffizienz zu erreichen; “funktionelle Synergien” (vorübergehende, tätigkeitsspezifische Koppelung zwischen mehreren Körpersegmenten) herzustellen, um redundante Freiheitsgrade einzuschränken. Bewegungsorganisation wird immer in funktionellen Tätigkeiten erarbeitet. Die TAMO Handhabung besteht aus einem sanftem Belasten wobei der Vektor dieser Belastung stets der Kräfteverteilung von selbständigen Tätigkeiten angepasst ist. Dies unterscheidet sich von Facilitations- und Hemmungstechniken, die bestimmte Bewegungskomponenten unterstützen oder hemmen, was einer Kräfteverteilung von geführten Bewegungen entspricht.

Tamo Konzepte der Bewegungsorganisation

Die dynamische Wechselwirkung zwischen internen und externen Kräften wird in folgenden perzeptiv-motorischen Verhalten beschrieben:

1. Kontakt mit der Unterstützungsfläche;
2. Stabilität-Mobilität Verhältnis;
3. Ausrichtung zur Schwerkraft;
4. Ausrichtung zwischen dem Körperschwerpunkt und der Unterstützung.

Keiner dieser vier Organisationsaspekte beschreibt bestimmte Bewegungsmuster, sondern Beziehungen zwischen mehreren Bewegungsaspekten, die in einer Vielfalt von Bewegungsmustern Ausdruck finden. Bewegungsorganisation kann daher im Spontanverhalten beobachtet werden. Ein selektives Aufsetzen des Umfeldes und der Tätigkeiten kann das volle Ausmaß von Fähigkeiten und Limitationen zu Tage bringen. Alle Organisationsaspekte sind interaktiv und stehen in steter Wechselwirkung; jeder einzelne Aspekt zeigt Vielschichtigkeit bezüglich Wirkungsgrad und Komplexität. Nach klinischen Erfahrungen korreliert die Effizienz der Organisationsaspekte mit der Effizienz und Anpassungsfähigkeit von funktionellen Bewegungen. Maßgebende Prozesse der motorischen Entwicklung sowie Prinzipien der Behandlung von Bewegungsstörungen können durch diese Organisationsaspekte beschrieben werden. In diesem Rahmen können die einzelnen Aspekte nur ganz kurz vorgestellt werden, ohne auf die verschiedenen Entwicklungsstufen und Interventionen hinzuweisen.

1. Kontakt mit der Unterstützung. Bestimmend für die Wirksamkeit der Organisation zur Unterstützung sind Ausmaß und Verteilung der Kontaktfläche, sowie der Kraftvektor von der Unterstützung auf den Körper. Optimale Adaptionen sind tätigkeitsspezifisch, stellen einen aktiven Kontakt zum Erforschen von handlungsspezifischer Organisation her und zeigen eine dynamische Anpassung, die sich entsprechend der Gewichtsverlagerungen, die mit jeder Bewegung verbunden sind, ändert.

2. Stabilität-Mobilität Verhältnis. Es ist die relative Verteilung zwischen beiden Komponenten, die verschiedene Situationen und Handlungen unterscheidet: Körpersegmente, die dynamisch stabilisieren, haben eine relativ kleine Mobilitätskomponente, kontrollierte Bewegungen hingegen benötigen nur eine relativ kleine Stabilitätskomponente. Die Verteilung zwischen beiden Komponenten ändert sich mit der Handlung. Eine koordinierte Verteilung der Stabilität-Mobilität über mehrere Gelenke ergibt eine dynamisch-stabile Koppelung und schließt diese Körpersegmente vorübergehend zu einer “funktionellen Synergie” zusammen.

3. Ausrichtung zur Schwerkraft. Die Schwerkraft und die Gegenkraft von der Unterstützung sind die wichtigsten Faktoren für die Entwicklung eines primären Orientierungssystems (7). Auch die optische Orientierung hängt von der Ausrichtung des Kopfes zur Wirbelsäule und des Körpers zur Unterstützungsfläche ab. Der Einfluss der Schwerkraft ist im perzeptivem als auch im motorischem Bereich maßgebend.

4. Ausrichtung zwischen dem Körperschwerpunkt und der Unterstützung. Diese Ausrichtung kann durch zwei Strategien geändert werden. Erstens, die Basis wird unter den Körperschwerpunkt gebracht. Dazu muss eine dynamische Ausrichtung zur Unterstützung vorhanden sein. Die zweite Strategie besteht darin, den Körperschwerpunkt über die Unterstützungsfläche zu bringen. Dazu muss ein aktives Stabilisieren gegen die Unterstützung möglich sein.

REFERENZEN

1. Tscharnuter I. A new therapy approach to movement organization. Physical & Occupational Therapy in Pediatrics, 1993 .

2. Tscharnuter I. Perceptuo-motor Organisation – eine neue Therapy. In Lischka A, Bernert G (Hrsg). Aktuelle Neuropediatrie 1992

3. Harbourne RT, Stuberg W, Tscharnuter I, Willet G, Willet S. The effect of TAMO treatment on selected gait and stance variables for individuals with foot pronation. Abstract. TAMO Newsletter, 1997

4 . Bernstein NA. Bewegungsphysiologie. 2. Auflage. Sportmedizinische Schriftenreihe 9,1988

5. Kelso JAS. Dynamic Patterns: The Selforganization of Brain and Behavior. MIT Press, Cambridge, MA, 1995.

6. Sporns 0, Edelman GM. Solving Bernstein’s Problem: A proposal for the development of coordinated movement by selection. Child Development, 1993

7. Gibson JJ. The Senses considered as Perceptual Systems. Boston, MA: Houghton Mifflin, 1966

8. Thelen E. Coupling perception and action in the development of skill: a dynamic approach. In: Bloch H, Berenthal BI. Sensori-Motor Organization and Development in Infancy and Early Childhood, 1990