Therapien

Das Down-Syndrom ist keine Krankheit, daher kann es auch nicht geheilt werden.

Es gibt jedoch zahlreiche Therapieformen, die für die Bedürfnisse behinderter Kinder entwickelt worden sind und die sich bei gesundheitlichen und konstitutionellen Problemen als hilfreich erwiesen haben.

 

Heutzutage scheint es zur “normalen” Beschäftigung des Lebens mit einem behinderten Kind zu gehören, nach der richtigen Therapie zu suchen und Hoffnung in ihren Erfolg zu setzen. Die Sorge, Förderungsmöglichkeiten zu versäumen, kann Schuldgefühle auslösen und zu einem stressigen Alltag führen. 

Wir empfehlen “Weniger ist MEHR”:
– Das Baby und Kleinkind benötigt Zeit zum Kuscheln und Spielen. Auch im Spielen und Entdecken findet viel Förderung statt.
– Ein Schritt nach dem Anderen. Eine Therapie oder ein Förderangebot reicht (nicht 3 Sachen zugleich!).
-Stress ist für die Entwicklung nicht förderlich.
-Wählen Sie eine Therapie aus, weil es einen Grund dafür gibt. Nicht weil sie als interessant empfohlen wurde.

 

Es gibt aber auch Ansätze, die Therapie nicht als notwendige Behandlung eines Defizits sehen, sondern nur als vorübergehende Begleitung von Kindern und Eltern, bei der Eltern die Schwierigkeiten ihrer Kinder besser verstehen lernen und dem Kind Anregungen gegeben werden, um in einer “geschützten” Situation Bewegungs- und Spielerfahrung zu sammeln.

 

Der unten stehende Beitrag zeigt Kriterien zur Beurteilung von Therapien und Förderkonzepten auf: 

Über den Umgang mit Therapien

Kinder mit Down-Syndrom, die sich langsam entwickeln

von Prof. Dr Etta Wilken, Allgemeine und integrative Behindertenpädagogin von der Uni Hannover, aus dem Tagungsheft der dritten österreichischen DS-Tagung 9/2009, Workshop 11

Durch Behandlung und Therapie ist es heute möglich, bei Kindern mit Behinderungen positive Veränderungen zu bewirken. Deshalb beginnen die meisten Eltern, wenn sie vom Down-Syndrom ihres Kindes erfahren haben, sich über solche Möglichkeiten zu informieren. Allerdings ist es bei dem vielfältigen Angebot an fachlichen Hilfen und Therapien, die es heute gibt, nötig zu unterscheiden, welche Maßnahmen wirklich hilfreich und welche überflüssig sind oder gar schaden können. Oft wird auch der Eindruck vermittelt, dass die kindliche Entwicklung “machbar” und ganz wesentlich von der Durchführung bestimmter Fördermaßnahmen abhängig sei. Das kann problematisch werden, wenn Eltern dadurch verunsichert werden und sich Sorgen machen, nicht genug für die nötige Förderung ihres Kindes zu tun, besonders wenn ihr Kind sich sehr langsam entwickelt. Auch gibt es bei allen Kindern eine große Variabilität im Entwicklungstempo und bei Kindern mit Down-Syndrom ist diese Streubreite besonders groß. Erfolge und Erfahrungen sind deshalb nicht einfach zu generalisieren. Oft bleibt unklar, was auf deine Maßnahme und was auf das individuelle Potential des Kindes zurückzuführen ist. Ein afrikanisches Sprichwort “Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!” vermittelt deutlich, welche Grenzen einem naiven Machbarkeitsglauben zu setzen sind. Aber – so ist zu ergänzen – es ist natürlich möglich, ein günstiges Klima zu schaffen, damit das Kind sich seine Welt aneignen kann. Das bedeutet für Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, einen sinnvollen Weg für sich zu finden, ihrem Kind einerseits die wichtigen Entwicklungsanregungen zu bieten und andererseits abzuwägen, was und wie viel an besonderer Förderung individuell wirklich sinnvoll und familiär leistbar ist.

Entwicklungsfördernde Bedingungen und therapeutische Maßnahmen

Alle Kinder entwickeln sich durch eigene Aktivitäten und positive Erfahrungen. Sie sind angewiesen auf die Erfüllung physischer Grundbedürfnisse. Sie benötigen Anregung und Ermutigung zu eigenmotiviertem Erkundungs- und Betätigungsverhalten. Förderung bedeutet deshalb nicht vor allem ein Antrainieren von Fertigkeiten sondern Hilfe zur Entwicklung von Neugierverhalten und selbstmotivierter Lernaktivität in sozialen Beziehungen und in Alltagssituationen. Das gilt besonders für Kinder mit sehr langsamer Entwicklung. Gerade auch das stärker beeinträchtigte Kind ist darauf angewiesen, in den verschiedenen Alltagshandlungen seine Kompetenzen zu erleben und eigene Fähigkeiten zu erfahren. Dagegen kann eine überzogene Betonung und ständiges Üben der “noch nicht” erreichten Entwicklungsschritte frustrierend sein und das Selbstwertgefühl der Kinder erheblich schwächen.

 

Es ist verständlich, dass Eltern mit besonderen Therapien bestimmte Erwartungen und Hoffnungen verbinden. Bei der Auswahl einer Therapie müssen sie jedoch beachten, welche Methoden angewendet und welche Ziele damit tatsächlich erreichbar sind. Sie müssen deshalb kritisch reflektieren, ob die gemachten Versprechungen glaubhaft sind. Das Down-Syndrom kann nicht mit Medikamenten oder speziellen Therapien geheilt werden. Es ist keine Krankheit, sondern eine “besondere Form des Daseins”. Jedoch sind die möglichen typischen entwicklungbeeinträchtigenden Probleme, die allerdings individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, behandelbar oder zumindest zu beeinflussen.

Bei einer Befragung von fast 800 Eltern ermittelten wir, dass die meisten Kinder Physiotherapie und Logopädie erhielten. Einige Kinder hatten jedoch drei bis fünf unterschiedliche Therapien in der Woche. Solche häufigen Termine belasten nicht nur das Kind erheblich sondern auch die gesamte Familie (manchmal auch finanziell!). Darüber hinaus können sie tendenziell dazu führen, falsche Erwartungen aufzubauen und die Entwicklung des Kindes mit allen Mitteln zu “pushen”. Aber selbst dann, wenn jede einzelne Maßnahme durchaus hilfreich sein könnte, stellt sich durch eine Addition mehrerer Therapien kein größerer Erfolg ein. Eine Therapievielfalt führt bei einem Kind mit Down-Syndrom nicht zu einer Beschleunigung der Entwicklung.

 

“Normalisierungsversprechen” und Therapietourismus

 

 

 

Erfolgsberichte, ob im Fernsehen gezeigt, in Zeitungen und Zeitschriften beschrieben oder in Elterngruppen mitgeteilt, führen oft zu frustrierenden Überlegungen, warum die Entwicklung des eigenen Kindes sich so deutlich von diesen Berichten unterscheidet. Sie können zudem die falsche Hoffnung nähren, mit gleichen Maßnahmen einen ähnlichen Erfolg zu erreichen. Aber auch wenn eine spezielle Therapie bei einem bestimmten Kind durchaus hilfreich war, kann ein solches Ergebnis meistens nicht direkt auf andere Kinder übertragen werden. Eine Generalisierung ist deshalb oft problematisch. Gerade die große individuelle Streubreite bei Kindern mit Down-Syndrom lässt solche Verallgemeinerungen kaum zu.

Eine Beobachtung des “Marktes” der syndrombezogenen Maßnahmen zeigt, dass jedes Jahr neue Therapien aktuell werden, dann aber oft schon nach kurzer Zeit oder nach mehrjährigen Erfahrungen an Bedeutung verlieren oder gar keine Rolle mehr spielen. Manchmal können sie aber nach Jahrzehnten plötzlich wieder aktuell werden. Die nach einer Befragung von Eltern erstellten Listen über die von ihnen durchgeführten Fördermaßnahmen und Therapien zeigten im Lauf von verschiedenen Jahren eine erstaunliche Fluktuation und zeigten, wie schwierig es oft ist, sich bei der gegebenen Angebotsvielfalt zu orientieren und für das Kind die richtige Entscheidung zu treffen. Der gemeinsame Erfahrungsaustausch und das fachlich begleitete Abwägen können Eltern jedoch ermöglichen, problematische Methoden zu hinterfragen und eine kritische Distanz zu “Therapietourismus” und überzogenen “Normalisierungsversprechen” zu gewinnen.

Kriterien zur Beurteilung von Therapien und Förderkonzepten

Bei der Auswahl und Anwendung von Therapien und Förderkonzepten und zur Beurteilung der verschiedenen Verfahren sollten Eltern, Pädagogen und Therapeuten eine kritische und reflektierte Haltung einnehmen. Für eine Beurteilung der verschiedenen Verfahren sind vor allem folgende Aspekte wichtig zu beachten:

  • Das methodische Vorgehen und die theoretischen Begründungen sowie die Erreichbarkeit der angegebenen Ziele sind kritisch zu hinterfragen. Problematisch ist eine Begründung mit der großen Plastizität des Gehirns. Positiv sind dagegen Hilfen zu bewerten, die die Handlungsfähigkeiten des Kindes erweitern und sich an seinen Interessen orientieren.
  • Es ist abzuklären, welches Verständnis der kindlichen Entwicklung der jeweiligen Methode zugrunde liegt. Fragwürdig sind Verfahren, die von der Machbarkeit der Entwicklung ausgehen. Positiv sind Angebote zu werten, die dem Kind ermöglichen, gemäß seinen Interessen, seinen Fähigkeiten und seinem Zeitbedürfnis zu leben.
  • Kritisch ist auch nach dem Menschenbild der verschiedenen Methoden zu fragen. Problematisch kann eine enge Normorientierung und rigider Förderoptimismus sein. Günstig ist dagegen zu werten, wenn eine responsive Haltung der Eltern unterstützt wird, die eine kindbezogene und familienorientierte Förderung ermöglicht.

Ein Kind erlebt sich nicht als Defizit-Wesen; es erlebt aber, wie man mit ihm und seinen Möglichkeiten umgeht. Bei der Durchführung von Therapie und Förderung sind daher sein subjektives Befinden von Bedeutung und die Wertschätzung, die ihm als Person dabei direkt oder indirekt vermittelt wird. Das ist besonders wichtig zu reflektieren für die Kinder, die sich langsamer als der Durchschnitt entwickeln.

Eine Therapie für das Kind kann sich in vielerlei Hinsicht auf die gesamte Familie auswirken. Die Eltern müssen also prüfen, inwieweit der Aufwand und die Einflüsse der Therapie ihr Familienleben insgesamt eher be- oder entlasten. Eine kritische Kontrolle der Entwicklung des Kindes sowie des versprochenen Erfolgs der angewandten Maßnahme sind notwendig – auch wenn sich Wirkung von Therapien nur schwer objektiv beurteilen lassen. Dabei müssen kurzzeitige Trainingseffekte von dauerhaften positiven Auswirkungen auf die Entwicklung getrennt werden.

 

Therapie und Förderung sind Mittel zur Unterstützung der Entwicklungs- und Integrationsmöglichkeiten des behinderten Kindes in seiner Familie und in seiner Lebenswelt. Die Auswirkungen der Fördermaßnahmen müssen deshalb in diesem individuellen Bedeutungszusammenhang gesehen werden. Deshalb ist kritisch zu fragen, ob sie dem Kind ermöglichen, seine Handlungspläne zu aktivieren und zu erweitern und das gemeinsame Handeln von Eltern und Kind anregen und es als bedeutsam, fröhlich und angenehm erleben lassen. Dann können entwicklungsfördernde Interaktionen gelingen und das Kind erlebt sich kompetent und nicht defizitär, es fühlt sich angenommen wie es ist und nicht wie es erst werden soll. Das ist besonders zu berücksichtigen bei Kindern mit Down-Syndrom, die ein abweichendes Potential haben und sich deshalb deutlich langsamer entwickeln als andere Kinder mit dieser Beeinträchtigung.

 

Literatur:

Etta Wilken 2009: Menschen mit Down-Syndrom in Familie Schule und Gesellschaft. Lebenshilfe-Verlag Marburg, 2. Auflage